Zeitkapsel 002: Wildschwein und Spiegel 04.04.2008

Gerhard Hallstatt gibt uns die Ehre, in unregelmäßigen Abständen einige seiner „Zeitkapseln“ in unserem Blog zu veröffentlichen: Photographien von einzelnen „magical mystery tours“ mit Tagebuchaufzeichnungen.

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Dramatis personae: ein Wildschwein, zwei Spiegel
Schauplatz: Lainzer Tiergarten, Wien

„Ich war im Lainzer Tiergarten und nahm zwei Spiegel mit. Ich näherte mich den Wildschweinen, merkte aber sehr rasch, daß alles schwieriger war, als ich geglaubt hatte. Ich wollte nämlich Wildschweine photographieren, die sich im Spiegel betrachteten. Einigen kam ich zu nahe, sie stürmten mir entgegen, und ich rannte mit dem großen Spiegel davon – ein surreales Bild. Beim Nikolaitor begegnete ich aber auf dem Weg einer friedlichen, neugierigen Wildsau und konnte unverhofft einige sehr gute Photos mit Wildschwein und Spiegel machen.“

(Gerhard Hallstatt, 04.04.2008)

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„Die Photos des Wildschweins mit dem Spiegel waren recht interessant geworden, mein Tagebucheintrag dazu war aber etwas kurz. Ich packte also noch einmal die gleichen beiden Spiegel in einen Rucksack und fuhr wieder in den Lainzer Tiergarten, der nach vielen Wochen endlich wieder offen war. Wegen der Corona-Hysterie waren viele Parks in Wien geschlossen; eine wahnwitzige Idee, denn was konnte gesünder sein als Wald und Sonne? Allerdings ein Wahnsinn mit Methode: In Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln herrschte Maskenpflicht – ein weiteres Mittel, um Gesunde krank und Kranke noch kaputter zu machen.

Als mir damals die Photos mit dem Wildschwein und dem Spiegel gelungen waren, hatte das Wildschwein wohl vor allem das Eßbare in meinem Rucksack gewittert. Ich hatte wirklich großes Glück, einem gar so treuherzigen Wesen zu begegnen, das mir Gesellschaft leistete und sich bereitwillig photographieren ließ, wie es neugierig am Spiegel schnupperte. Davor hatte ich ja stundenlang Pech, sah entweder keine Wildschweine oder aber empfand die Situation plötzlich als zu bedrohlich, wenn ich welche sah. Einmal hatte ich den Spiegel ausgepackt, um für Photos vorbereitet zu sein – dann aber bewegten sich drei wilde Kerle schnell in meine Richtung, und ich, das Grünhorn, flüchtete durch den Wald, den großen Spiegel in der Hand: ein wirklich surrealistisches Bild aus einem absurden Theater, das leider niemand für die Nachwelt festhalten konnte. Meine Kleidung war so grün wie die des Narren im Tarot.

Die Idee für das Bild eines Wildschweins mit einem Spiegel hatte ich, nachdem ich Bilder der polnischen Photographin Olga Ozierańska gesehen hatte, auf denen ihre menschlichen Modelle Spiegel in den Händen hielten. Mir schwebte etwas ähnliches vor, aber ich wollte dafür keine menschlichen Wesen. Zunächst mußte ich mich also auf die Suche nach tierischen Darstellern machen.

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Die Erde zwischen den Buchen und Eichen war trocken, grau, braun. Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Die Schweine hatten alles umgeackert, ihre Spuren waren überall. An einigen Stellen blühte alter Bärlauch, die Wildschweine schienen auch ihn zu fressen. Ich stieß auf einige Schützengräben – es waren Stellungen aus dem zweiten Weltkrieg. Sie waren mit braunem Laub gefüllt, in einigen hausten offenbar die Wildschweine; ich sah flache Gruben im Laub, die die Jäger Schlafkessel, Paarungskessel, Wurfkessel nennen. Ob die Wildschweine schon Frischlinge hatten? Ich stellte mir vor, wie sie neugierig meinen Spiegel umringten. Einmal regnete es kurz. Leise flüsterte der Regen den Dingen etwas zu. Ob ein Gewitter kommen würde – und ob so ein Spiegel auch einen Blitz anziehen mochte? Ich malte mir einen Blitz aus, der sich im Spiegel betrachtete.

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Kurz nach zwölf Uhr sah ich eine Bache mit mehreren Frischlingen. Ich folgte ihr, aber bald waren alle im Wald verschwunden. Die polnische Photographin tat sich mit ihren menschlichen Modellen etwas leichter – ich selbst kam mir vor wie ein Regisseur mit höchst widerspenstigen, eigenwilligen und auch keineswegs ungefährlichen Darstellern. Ich dachte an das Stück Wildschweinwurst, das mir ein junger Pole beim Monte Perdido in den Pyrenäen geschenkt hatte, es stammte vom Waldgut seines Onkels. Mir kam auch der Wildschweinknochen in den Sinn, den ich in Kopenhagen bei einem Allerseelen-Auftritt die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Die dänischen Veranstalter nannten ihn ,talende knogle‘, den ,sprechenden Knochen‘.

Wildschweine waren echte Krafttiere. Sollte ich grunzen, um welche anzulocken? Halblaut tat ich es und auch halbherzig, denn der Lärmzauber konnte ja wirken. Weder Kampf noch Paarungsversuch aber würde ich überleben. Wenn ich glaubte, ein Grunzen zu hören, waren es immer ächzende Bäume. Manche Äste knurrten auch. Ein Specht klopfte. Viele Bäume waren bei einem Sturm zersplittert.

Ich war dankbar, daß es die Bilder von dem Wildschwein und dem Spiegel bereits gab, denn heute würde mir wohl nichts gelingen. Bei der Nikolaikapelle in der Nähe des Ausgangs machte ich mir Notizen und las etwas. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Wald, und ich hoffte insgeheim, ein Wildschwein würde sich im Zwielicht bei den Bänken vor der Kapelle auf die Suche nach Speiseresten machen. Aber mein Wunsch sollte diesmal nicht in Erfüllung gehen.“

(Gerhard Hallstatt, 03.05.2020)

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Biographisches und Links zu Gerhard Hallstatt finden Sie in seiner ersten Zeitkapsel.


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