Einst entsprang diese Quelle an der Wurzel eines mächtigen Baumes. Agnesbrünnl heißt sie als Stätte alter Sagenüberlieferung nach Agnes – der Tochter eines Königs und einer Waldfee –, die bei Baum und Quelle wohnte. Den König hatte einst ein verfolgtes Reh zum Agnesbrünnl geführt. Er ruhte dort die Nacht über und als er weiterzog, ließ er am Stamm des Baumes seine Rüstung zurück. Mit dieser Rüstung zog der Kohlenbrenner Karl, der Verlobte der Agnes, in den Türkenkrieg. Er wurde ein berühmter Held, doch kehrte er nie zu seiner Braut zurück. Als Schutzherrin des Waldes zeigte sich Agnes den Waldleuten. Karl aber erschien nachts als schwarzer Ritter und man glaubte noch oft bei der Quelle den Waffenlärm seiner Reiterschar zu hören.
So steht es – schon etwas schwer zu entziffern – auf einer einfachen Holztafel gleich neben einer unscheinbaren Quelle geschrieben. Gut versteckt ist der blau markierte Weg von der Jägerwiese, der hinter dem Gasthaus „Zum Agnesbrünnl“ wegführt und dem man etwa fünf Minuten folgen muss, bevor man vor dieser schon recht heruntergekommenen Stätte steht. Dabei war das Brünnl früher einer der meistbesuchten Orte im Wienerwald.
Nicht umsonst zählt die Geschichte um das Agnesbrünnl zu den populärsten Wienerwaldsagen. Recherchiert man ein wenig im Internet oder in alten Sagenbüchern, so stößt man auf viele unterschiedliche Varianten und Interpretationen – manche glaubwürdig, andere weniger.
Zu ersteren zählt die Ergänzung, dass die erwähnte Nacht für die Waldfee nicht ohne Folgen geblieben sei. Sie brachte kurze Zeit später ein Kind zur Welt, das sie ebenfalls Agnes nannte und in die Obhut einer braven Köhlerfamilie gab. Gegen Bezahlung zog diese das Mädchen gemeinsam mit ihrem Sohn Karl auf. (Die Leute hatten damals viel weniger Phantasie, was Vornamen betraf, sonst hätten die Kinder wahrscheinlich Kevin und Nicole geheißen, damit man sie von den Eltern/Vorfahren unterscheiden konnte …) Und es kommt, wie es in Sagen kommen muss: die beiden verlieben sich unsterblich ineinander, was naturgemäß nur in einer Tragödie enden kann.
Um dem Köhlerssohn zu Ruhm und Ehre zu verhelfen, gab ihm die zukünftige Schwiegermutter den zurückgelassenen Harnisch des schwedischen Königs und schickte ihn mit geheimen Informationen in das Türkenlager vor Wien. Ihrer Tochter schenkte sie ein prachtvolles Schloss. Alles schien auf ein Happy End hinzusteuern. Der Plan ging auf, und Karl, der Köhlerssohn, wurde als Held gefeiert. Agnes harrte derweil in ihrem Schloss sehnsüchtig der Rückkehr ihres Geliebten. Der kam auch irgendwann wieder zu ihr, ohne aber davon zu berichten, dass er in der großen Stadt ein Gspusi hatte. Der Betrug flog auf, das Schloss wurde vom Erdboden verschluckt, und die beiden waren von Stund an dazu verdammt, untot auf Erden zu wandeln … Karl als geharnischter schwarzer Ritter, Agnes als unschuldige Waldfee.
Unglaubwürdiger dagegen ist die Auslegung des nicht unumstrittenen Schriftstellers, Esoterikers und populären Vertreters der völkischen Bewegung Guido von List sowie des Pädagogen und Sagensammlers Theodor Vernaleken, die in den Protagonisten Wuotan (Odin) und Holda erkennen wollten. Den beiden Herren nach lebte „das vornehmste deutsche Götterpaar, dem Volksbewusstsein längst entrückt, noch unter der Hülle heimischer Namen fort, und zwar vor den Toren einer europäischen Großstadt“.
Näher liegt da schon die Vermutung, dass es sich bei Agnes um die Frau des Markgrafen Leopold III., dem Gründer von Klosterneuburg und Landespatron von Niederösterreich, handelt. Bis heute wird ihm zu Ehren der Leopoldikirtag veranstaltet. Mit Agnes verbinden die meisten nur noch die Schleierlegende, die zur Gründung des Stifts Klosterneuburg führte, wo man bis heute jenes Stück Stoff als Reliquie bewundern kann.
Belegt hingegen ist, dass die am Hang des Hermannskogels entspringende Quelle bereits vor der Verbreitung des Sagenkreises um Agnes und Karl im 19. Jahrhundert als wundersam galt. An Sonn- und Feiertagen zogen die sogenannten „Brünnlweiber“ mit Tausenden von Anhängern zum Agnesbrünnl, wo bereits unzählige Wahrsagerinnen und Verkäufer von Heiligenbildchen versammelt waren. Warum das so war und wonach sie suchten, das erfahren Sie im zweiten Teil dieses Berichts.
Ach ja … Karl, der geharnischte schwarze Ritter, soll jeden Tag zu Mittag und um Mitternacht die Jägerwiese heimsuchen. Lauschen Sie also bei Ihrem nächsten Spaziergang – vielleicht im Zuge der Wanderung 2 („Schöne Aussichten“) in unserem Buch Wandern im Wienerwald – genau. Vielleicht hören auch Sie den Waffenlärm und das Säbelrasseln. (kat)
Quellen:
Bouchal, Robert/ Sachslehner, Johannes: Sagenhafter Wienerwald: Mythen, Schicksale, Mysterien (Pichler Verlag 2007)
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5 Gedanken zu “Von Waldfeen, Markgräfinnen und nordischen Göttern”