Asphalt-Agonie

The A-Series, Pt. 4

Manchmal hilft nur beten – und daran denken, dass man den nächsten Schritt machen muss. Und dann noch einen und noch einen.
Heute ist so ein Tag. Wir legen die knapp mehr als 20 Kilometer von St. Pantaleon nach St. Florian bei sengender Hitze und gnadenlos blauem Himmel zurück, wandern nur kurze Wegstücke auf Naturboden dahin und sonst immer nur auf Nebenstraßen, Hauptstraßen, Gehsteigen, asphaltierten Feldwegen, Stiegen, Gleisen … Es hat was Surreales, wenn man viele Tagesfußreisen von zu Hause entfernt ist und trotzdem das Gefühl hat, man würde am Verschubbahnhof Kledering oder in der Nähe des Alberner Hafens herumhatschen. Andererseits: Andere Gegenden haben auch ein Recht darauf, hässlich zu sein.

Also los, frühmorgens nach der Alptraumnacht in St. Pantaleon und einem übernachtigen Frühstück. Blasenpflaster festpicken, in den Wanderschuh quälen, Wasserflaschen anfüllen, den Rucksack anlegen und den Ort verlassen … auf einer Straße (wer hätte es geahnt?). Die ist aber ausnahmsweise und dank der Uhrzeit noch schattig und kühl. Dann umrunden wir auf einem Wiesenweg das Gelände eines Ennskraftwerks und kommen auf die nächste Straße, die uns in den Ort Pyburg führt. Nie gehört, wird man wahrscheinlich auch nie wieder sehen. Hier teilt sich wieder einmal der Jakobsweg (siehe unten links – und nein, die Ortstafel über dem Wanderpfeil weist nicht auf die Heimatgemeinde der Simpsons hin!); eine längere Etappe führt auf die andere Seite der Donau. Aber die ersparen wir uns und gehen weiter durch den Ort, wo uns gleich der erste surreale Anblick erwartet: ein Schweinemädchen, das für günstiges Faschiertes wirbt. Sowas kann man nicht mehr ungesehen machen.

Es geht weiter in den Ort Windpassing, nicht zu verwechseln mit Wimpassing (aber eigentlich wurscht) und immer am Straßenrand entlang. Nach geraumer Zeit erst dürfen wir links abbiegen und kommen ein bissl ins Grüne, so für zehn Minuten ungefähr. Der Weg führt immer am Waldrand und neben einem Feld entlang, der Boden ist noch taufeucht und reinigt so unser Schuhwerk …

… und am Wegesrand hat der zuständige Fremdenverkehrsverein alte Friedhofskreuze zu Stationen eines Psalmenwanderwegs umfunktioniert. Da liest sich manches nicht nur poetisch, sondern auch sehr tröstlich.

Ich hoffe nur, ER lässt wirklich meinen Fuß nicht wanken.
Bald heißt es wieder auf Asphalt weitermarschieren, Gleise queren, Vorortgebiete durchqueren, Straßen und weitere Bahnstrecken unterqueren (wie gut, dass ich ein notorischer Querdenker bin!) und endlich die Ennsbrücke überqueren.

Jetzt sind wir in Oberösterreich und betreten bald die Stadt, die sich als älteste Österreichs ausgibt und deren Hauptplatz über viele, viele (viele) steile Stufen erreichbar ist.

Etwa zwei Stunden nach unserem Aufbruch stehen wir vor dem Stadtturm, lassen uns auf eine Bank vor einem Museum fallen, das gerade aufsperrt, für das wir aber jetzt schon zu müde sind, packen unsere Jause aus, füllen verlorene innerkörperliche Flüssigkeitsreservoirs auf und machen eine Pause. Die gute Gattin retiriert in eine nahe Apotheke, weil man bei so einer Tour ohne pharmazeutische Versorgung nicht auskommt.
Und dann kommt es zur nächsten surrealen Begegnung: Als wir gerade aufbrechen wollen, nähert sich uns ein eher versandelter Typ, der dem Alkohol nicht ganz abgeneigt scheint, und fragt: „Sads es Punks?“ Wie er auf das kommt, weiß man nicht so genau, eventuell wegen meiner zweifarbigen Haare oder wegen Katharinas Wander-Outfit mit kurzer Hose und schwarzen Strümpfen … aber er hält uns offenbar für fahrendes Volk, und das sind wir ja irgendwie auch. Er jedenfalls war ein Punk, erzählt er, und hat in den späten 70ern und/oder frühen 80ern bei einer Band gesungen, einer lokalen oberösterreichischen Größe anscheinend, die aber immerhin als Vorgruppe von Willi Warma (die ich seinerzeit tatsächlich einmal live gesehen habe, glaube ich) und Wellblech Untergrund (deren Namen ich immer genial fand) gespielt hat. Naja, aber wir sind keine Punks, und er meint: „Nix für unguat!“, also gehen wir hin in Frieden.

Als wir uns der St.-Marien-Kirche nähern, entdecken wir direkt am Kirchenplatz eine Bücherei, die mein Lieblingsmensch naturgemäß schon aus professionellem Interesse betreten und begutachten muss. Wir schauen uns um, plaudern angeregt mit den zwei sehr netten Bibliothekarinnen, bewundern die vielen guten Ideen, die hier umgesetzt wurden, und nehmen dann schon wieder Abschied.

Weiter geht es in die oben erwähnte Kirche, die vor allem durch ihren schönen Kreuzgang auffällt …

… und dann weg aus der Innenstadt von Enns, in einen Stadtteil mit dem unsäglichen Namen Lorch, wo wir auf die Kirche St. Lorenz (alias Lorcher Basilika) zuhalten, dieses noch schönere alte Gotteshaus begeistert besichtigen …

… und uns (siehe Bild rechts unten) freundlich empfangen fühlen.

Dann aber – wie soll ich es anders sagen? – wird’s oasch. End- und schattenlos führt der Jakobsweg an besagten Verschubbahnhofgleisen entlang, unter der neuen und der alten Westbahnstrecke durch, dann durch den Ort Asten (eine öde Vorstadthölle voller Gemeindebauten) und zur Abwechslung auch einmal unter der Autobahn durch.

Und plötzlich stehen wir vor einem der heutigen Höhepunkte des (völlig falsch verstandenen) Surrealismus: den Firmengebäuden von „backaldrin International – The Kornspitz Company“, vor denen auch gleich ein Kornspitz aus Granit aufragt, eine ungeheure Geschmacklosigkeit, die ausschaut wie eine riesige steinerne Kackwurst und vom Künstler Erwin Wurm geschaffen wurde. (Und wenn das nicht alles über Künstler sagt, was es über Künstler zu sagen gibt, was muss dann noch passieren?!) Ach ja, passiert auch schon … ein paar Schritte weiter stehen wir nämlich vor einer verchromten Leibschüssel, die von der Architektengruppe Coop Himmelb(l)au verbrochen wurde und PANEUM heißt. Sie nennt sich „Wunderkammer des Brotes“ und ist wahrscheinlich sowas wie ein Museum.

Rundherum alles menschenleer, bis auf uns zwei Pilger. Möglicherweise werden regelmäßig ganze Busladungen voller hilfloser Pensionisten hierher entführt, die sich über diese Wunderkammer wundern dürfen und drinnen, bei der Besichtigung um geharnischte 10 Euro (die uns das Paneum natürlich auf keinen Fall wert ist), einen steinharten Kornspitz zum Verkosten aufgedrängt kriegen. Wir wollen es nicht wissen und schleppen uns noch ein Stück weiter durch Industriegebiet, dann ein Stück an einem Biobauernhof vorbei und am Waldrand entlang etc. pp., bis wir vor uns das Stift St. Florian – unser heutiges Tagesziel – in der Ferne erspähen. Das letzte Wegstück, nach Querung einer Landesstraße, führt auf Naturboden an einem Bach entlang und ist wieder ganz schön, sodass uns dann auch der Aufstieg durch den Ort und zum Stiftseingang (ganz oben, wo sonst) nicht stört.

Wir besuchen gleich einmal die eindrucksvolle Stiftsbasilika und freuen uns darüber, dass sich hier keine modernen Kunstlumpen – wie im Stift Melk – prostituieren durften. Nach einem verschwitzten Blick auf die Brucknerorgel schleppen wir uns in den gut besuchten Gastgarten des Stiftslokals, werfen die Rucksäcke ab, lassen uns schwer auf die Sessel fallen und inhalieren erst einmal jeder zwei Radler. Da es noch recht früh am Nachmittag ist, müssen wir ein wenig warten, bis wir unser Gästezimmer beziehen dürfen (aber immerhin: Wir übernachten endlich einmal in einem Stift!). Dann heißt es duschen, ausruhen – und schließlich dem Ruf der Kultur folgen. Trotz großer Fußmüdigkeit haben wir uns für eine Stiftsführung angemeldet.

Und die zahlt sich wirklich aus, nicht nur wegen der großartigen Bibliothek, sondern auch wegen des geradezu unglaublich schönen Sebastiansaltars, der Anfang des 16. Jahrhunderts vom Maler Albrecht Altdorfer geschaffen wurde und von dem wir wegen Photographierverbot hier keine Bilder zeigen können. Also fahren Sie gefälligst selber hin und schauen Sie sich das an.

Die Krypta, wo auch Anton Bruckner (der lange hier gewirkt hat) bestattet ist, erinnert uns an die Endlichkeit des Daseins – aber die spüre ich ohnehin schon am eigenen Leib.

Wir essen im Garten des Stiftskellers dann noch gut zu Abend, verbringen anschließend ein paar ruhige Viertelstunden im Garten der Novizen und retirieren dann in unser schönes Gästezimmer. Selbiges liegt übrigens fast am Ende des langen Ganges, den Sie auf dem Bild unten links sehen. Und gleich daneben ist der Eingang zur Krypta.
Sollte uns das zu denken geben?

Das Interessante beim Pilgern ist: Ich freue mich beim Aufstehen über jeden neuen Tag – und fürchte abends seltsamerweise trotzdem immer den nächsten Tag. Vor dem Einschlafen erfasst mich stets eine nagende innere Unruhe, die sich auch in meinen Träumen ausbreitet und darüber nachsinnt, was alles sein könnte, was alles schiefgehen könnte, ob eventuell morgen dann der Hitzschlag droht … irgendwas ist immer. Ob ich das in diesem Leben noch loswerde?
Genügend Zeit habe ich ja, darüber nachzudenken, da hier im Stift die Kirchenglocken alle Viertelstunden läuten, die ganze Nacht durch. (Bei unseren bisherigen Übernachtungen neben Gotteshäusern haben sie nachts die Glocken ausgeschaltet, aber hier an diesem heiligen Ort … naja.) Dementsprechend unruhig ist mein Schlaf, und ich leide an komplizierten religiös-philosophischen Traumbildern.
Die Frau Gemahlin schläft übrigens gut und seelenruhig und lässt sich von den Glocken nicht stören. Man könnte neidig werden. (ph)

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