Alles ist relativ

Als wir seinerzeit – im verwichenen Jahrtausend – die ersten paar Male professionell wandern gingen, also mit dem Auftrag und erklärten Vorhaben, ein Wanderbuch zu schreiben, mussten wir konkret werden. Das hat der Leser verdient. Und die Leserin auch. Schließlich haben selbst geübte Wandersleut’ oft keine Lust, sich anhand bloßer Kilometerangaben und Höhenprofile selbst auszurechnen, wieviele Stunden sie auf dem beschriebenen Weg unterwegs sein werden. Aus dem Grund sagte man uns von Verlegerseite auch: „Meine Herren, schreiben Sie unbedingt bei jeder Wanderung die Gehzeit dazu!“

26. Weg zur Figl-Warte_Wandertafel am Boden

Sowas haut einen natürlich nieder. Der Herr Singer und ich (der Herr Hiess), beide Autoren des aktuellen Standardwerks „Wandern im Wienerwald“, waren nämlich damals unwahrscheinlich rasant unterwegs, sowohl auf den Gehsteigen der Großstadt als auch auf Wiesenwegen und Forststraßen. Man war relativ jung und hatte keine Zeit zu verlieren. Helmuth Singer schurlte durch Wald und Feld, mit dem Auge auf seinen Notizen und den Gedanken immer schon beim nächsten Etappenziel, während ich mich vor allem in der Bergwertung so auszeichnete, dass vor Aufregung zitternde Kommentatoren nichts Gescheiteres zu sagen wussten als „Der Peter rennt ja immer so bergauf!“ Richtig, das tut er. Und er weiß auch, warum.

Jedenfalls standen wir jetzt beide vor der schwierigen Aufgabe, der Leserschaft glaubwürdige Gehzeiten zu vermitteln. Die sechs Stundenkilometer, die wir bei unseren Ausflügen im Durchschnitt anstrebten, konnte man dem Wanderbuchkäufer nicht zumuten, das fand auch der Verlag. Also überlegten wir hin und her, um ein gedankliches Bild des Wanderers zu erschaffen, der unser Buch lesen sollte: „Eventuell schon um die fünfzig und daher nicht mehr ganz so schnell unterwegs – oder auch samt Familie unterwegs, die einen ja bekanntlich aufhält, weil dauernd Proviant und Das Trinken konsumiert werden muss oder irgendein Kind nicht mehr weiterwill – oder auch idealistische Naturgenießer, denen es nicht darum geht, möglichst schnell durch den Wald zu flitzen, sondern die auch etwas davon haben wollen. Kurz und gut: aus diesem oder jenem Grund erheblich langsamere Menschen.“

Wir einigten uns also auf 4 oder schlimmstenfalls 4,5 km/h, die wir dem Volk in unseren Wanderbeschreibungen zumuten wollten – und trugen diese Gehzeiten mit einem milden Lächeln in unser Buch ein.

Schnitt: 25 Jahre später. Wenn wir jetzt die Wanderungen aus unserem eigenen Buch nach- und immer wieder gehen, haben wir zwar immer noch das Gefühl, dass wir rasend schnell unterwegs sind und wie die Wilden bergauf rennen – aber das ist rein subjektiv. Mittlerweile brauchen wir für die Strecken nämlich GENAUSO LANG, wie wir das vor einem Vierteljahrhundert gnadenhalber in unserem Manuskript angegeben haben. Der Trost: Wir hatten absolut recht. Der pessimistische Aspekt: In fünf Jahren werden wir froh sein, wenn wir diese Zeiten erreichen.

Sollte also jemand noch ein mildes Lächeln übrighaben, dann kann er das bitte uns schenken …  (ph)

45 alte Wandertafel Hintersdorf


Ein Gedanke zu “Alles ist relativ

  1. Es ist eben ein Unterschied ob ein, zwei fitte Personen einen Weg eher schnell durchschreiten wollen, oder eine gemischte Gruppe mit Greisen und Kindern unterwegs ist. Einer möchte bergauf nicht ins Keuchen kommen, eine Andere ein Foto machen und Jemand gar das Panorama länger als 17.3 Sekunden betrachten, Kinder brauchen Unterhaltung usw.

    Wandern ist, zumindest für mich, eigentlich kein schnelles Durchschreiten der Landschaft, sondern eher ein „Der Weg ist das Ziel“, wobei man im Gegensatz zur Autofahrt, fast überall anhalten kann um interessante Dinge zu betrachten und fotografieren. Ob es sich dabei um eine leere Packung Chesterfield am Wegesrand, einen Oldtimer Cadillac auf der Straße, Pflanzen, Bäume, Gebäude (viel zu oft verlassen) handelt, ist aber individuell sehr verschieden.

    Auch objektiv lässt sich die Geschwindigkeit sehr schwer messen, denn Aktivitätstracker berücksichtigen kurze Pausen kaum. Deshalb ergab es sich, dass bei meiner letzten Wanderung das Teilstück nach dem Aufstieg (großartige Fernsicht) als langsamste Kilometer und der letzte, uninteressante weil nur Gehsteig, als schnellste Kilometer dokumentiert wurde.

    Die Zeitangaben für die Wegstrecken im Buch sollen ja nur halbwegs mit den Zeitschätzungen anderer Quellen zusammenpassen, und nicht halb oder doppelt so groß sein.

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